Koma - Nachrichten aus dem Reich der Schatten

Die Maschine schnarrt im Takt. Luft ein, Luft aus. Luft ein, Luft aus. Der Mensch, dem sie die Lungen füllt, liegt wie tot - und ist es doch nicht. „Koma“, sagt der belgische Neurowissenschaftler Steven Laureys, „ist ein Artefakt der modernen Medizin. Betroffen sind Patienten, die früher an Atemstillstand gestorben wären. Durch die künstliche Beatmung können sie jetzt in so tiefer Bewusstlosigkeit überleben wie nie zuvor.“

Wer von selbst nicht mehr die Augen öffnet, egal, was auch passiert, liegt per Definition im Koma. Um diesen Zustand von der augenscheinlich ähnlichen Narkose und von einer Ohnmacht zu unterscheiden, genügt es, auf die Uhr zu sehen: Jede Regungslosigkeit, die länger als eine Stunde dauert, wird als Koma bezeichnet. „Das Koma ist eine Schutzfunktion des Körpers“, erklärt der Neurochirurg Andreas Zieger. „Immer gehen extreme Ereignisse, schwere Hirnverletzungen, Organversagen oder Vergiftungen, voraus. Es ist, als zöge sich der Mensch vor diesen Traumata ganz auf sich selbst zurück.“ Zieger leitet in Oldenburg eine Station zur Frührehabilitation solcher Patienten. Er beschreibt das Koma als „eine Lebensform am Rande des Todes“.

Aufwachen aus großer Tiefe

Je weiter die technischen Möglichkeiten in der Medizin fortschreiten, desto mehr Patienten werden in diesen Zustand geraten; in Deutschland sind es bereits Zehntausende pro Jahr. Wer die ersten zwei bis vier Wochen überlebt, wird am Leben bleiben. Ihm stehen dann entweder Jahre der Regungslosigkeit bevor, beatmet von einer Maschine. Oder sein Zustand bessert sich wieder - langsam, wie ein Auftauchen aus großer Tiefe. Anfangs, im Stadium des sogenannten Wachkomas, regen sich nur die Reflexe des Körpers. Der Atem setzt von allein wieder ein, die Lider öffnen sich, und die Augen verfolgen Bewegungen.

Von der Außenwelt bleibt man in diesem „vegetativen Zustand“ wahrscheinlich meist abgeschirmt. Wenn das Umfeld wieder mehr zur Wahrnehmung durchdringen kann und erste absichtliche Bewegungen dazukommen, ist der Genesende im sogenannten Minimal Conscious State. „Von tausend Komapatienten schaffen es ungefähr hundert in den vegetativen Zustand, und zehn können wieder ab und zu mit der Außenwelt kommunizieren“, sagt Steven Laureys. „Vollständige Regeneration ist noch viel, viel seltener.“

Das Gehirn regt sich noch

Auf den ersten Blick scheint Komapatienten nichts von beatmeten Hirntoten (siehe „Der schmale Grat“) zu unterscheiden. Doch der diagnostische Blick ins Gehirn, wenn man die Hirnströme etwa mittels Elektroenzephalogramm (EEG) registriert, verrät sofort, dass dort noch Leben ist. Die Hirnstrom-Wellen mögen wirrer sein oder langsamer rollen als die von Gesunden, aber es sind noch Wellen, keine flachen Linien. Auch Messungen des Gehirnstoffwechsels lassen keinen Zweifel zu, dass im komatösen Gehirn etwas passiert: Die Nervenzellen verbrauchen 50 bis 70 Prozent der normalen Nährstoffmenge. „Nur weil jemand nach außen keine Reaktionen zeigt, heißt das ja nicht, dass er gar nichts mehr spürt“, sagt Zieger.

Bei den Bewusstseinstests am Krankenbett zählte bisher nur das von außen Sichtbare, also ob ein Mensch gelegentlich wach ist und sich dann seiner Umgebung gewahr wird. Wie er aber seine Innenwelt erlebt, konnten Ärzte nicht überprüfen. Weiß er von sich selbst? Träumt oder leidet er? Zurzeit fragen sich immer mehr Forscher, welche Ebenen des Gehirns im Koma noch funktionieren.

Die Innenwelt ausmessen

Sie beschränken sich dabei nicht darauf, das Koma als solches zu erklären. Sie suchen einen umfassenden Begriff, der nicht nur die Außenbeziehungen, sondern auch die Innenwelt erfasst. Es gilt, den menschlichen Geist messbar zu machen. Steven Laureys, der eine Komaforschungsgruppe an der Universität Lüttich leitet, nutzt dafür die modernen bildgebenden Verfahren der Medizin. „Um die Gehirnaktivität unserer Patienten einzuschätzen, sehen wir uns zum Beispiel im Positronen-Emissions-Tomographen an, wie viel radioaktiv markierte Glucose in den verschiedenen Regionen verbraucht wird.“ Dabei entstehen knallbunte Bilder, Landkarten des menschlichen Geistes, die Laureys nun lesen lernen muss. Er sucht auf diesen Karten die neuronalen Korrelate des Bewusstseins, jene Hirnstrukturen also, die unser Gefühl für Zeit und Raum, für das eigene Ich und für die Welt um uns herum steuern.

Vor allem in zwei Regionen ist das Gehirn im Komamodus viel zu still. Das sind einerseits bestimmte Areale in der Großhirnrinde, die sich wie ein Lorbeerkranz vom hinteren Scheitel zu den Stirnschläfen ziehen, andererseits ist das ein weitgreifendes Schaltnetz, dessen Steuerzentrale im Zwischenhirn liegt und ARAS genannt wird, „aufsteigendes retikuläres aktivierendes System“. Sein Taktschlag, der im EEG als Hirnstrom gemessen wird, bestimmt den Grad der Wahrnehmung. Je geringer die Frequenz des Taktes, desto stärker muss ein Reiz sein, um noch durchzudringen. Im Koma sind es noch dumpfe zwei Hertz, geschlossene Tore für die Außenwelt.

Einsame Inseln im Gehirn

Die im Koma inaktiven Regionen der Großhirnrinde verknüpfen Gedanken, fragen Erinnerungen ab und starten Assoziationsketten. „Diese Areale verschalten die anderen Funktionsfelder im Gehirn miteinander“, sagt Laureys. „Ohne sie sind das lauter einsame Inseln.“ Der Radiologe und Bewusstseinstheoretiker Marcus Raichle von der Washington University School of Medicine glaubt, dass ein Teil von ihnen als eine Art Standard-Modus-Netzwerk für unser Gehirn arbeitet. Es übernimmt in ruhigen Momenten die Regie und lässt all die Worte, Bilder und Gefühle regnen, die uns bei unseren Tagträumereien von innen durchfluten. In dieses Netzwerk wird ein Großteil der Energie gepumpt, die das Gehirn verbraucht. Nicht weil das Tagträumen selbst so wichtig wäre, sondern weil das Netzwerk für eine Balance zwischen den verschiedenen Neuronengruppen sorgt.

Ohne dieses Gleichgewicht wäre keine sinnvolle Zusammenarbeit der Abermilliarden von Nervenzellen möglich. „Bewusstseinsstörungen wie das Koma sind vor allem durch Veränderungen in dieser Standardaktivität gekennzeichnet“, erklärt Laureys. „Das führt zu einem dramatischen Wandel in der Fähigkeit, auf Umweltreize zu reagieren.“ Nach Laureys' Interpretation zeigen die Karten der Gehirnaktivität, dass Menschen im tiefen Koma „nichts, aber auch gar nichts“ bewusst sein kann. „Nicht ohne die assoziativen Bahnen.“

Schlaf des Bewusstseins

Dieser an Methoden orientierten Sichtweise widerspricht Andreas Zieger mit seinen Erfahrungen aus der Koma-Rehabilitation: „Die Regionen im oberen Hirnstamm, die mit den Basisemotionen zu tun haben, sind ja noch durchblutet. Wir können zum Beispiel bei uns auf der Station beobachten, dass sich der komatöse Zustand bei Patienten durch liebevolle Fürsorge und Ansprache eher bessert. Menschen im Koma sind schwerstkranke, aber eben auch empfindsame Menschen.“ Zieger glaubt, dass die Wahrnehmungen im Koma durchaus mit tiefem Schlaf vergleichbar sind. Die jeweiligen Stoffwechselraten und EEG-Kurven ähneln sich. „Tiefschlaf kann zum Beispiel auch mit Träumen einhergehen, und das ist eine Form von Bewusstsein. Echte Bewusstlosigkeit tritt erst ein, wenn der Mensch ein Hirntodsyndrom erleidet oder gestorben ist“, sagt Zieger.

Ob Komapatienten nun wirklich träumen, Berührungen spüren und sich von vertrauten Stimmen beruhigen lassen - eines fällt auf: Die wenigen, die wieder zu sich kommen, besitzen eine Art Erinnerung an das Koma. „Annähernd die Hälfte meiner Patienten berichten davon“, sagt Zieger. In den Erzählungen aus der Zwischenwelt geht es manchmal um düstere Albträume mit Seelenschiffern oder gläsernen Särgen. Viel häufiger jedoch spielen angenehme Empfindungen eine Rolle: Lichter, das Gefühl zu schweben, ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen. Zieger fordert dazu auf, diese Berichte ernst zu nehmen: „Natürlich können das auch Wahrnehmungen aus der Aufwachphase sein, aber wir müssen es endlich untersuchen. Schließlich sind das Hinweise, die wir direkt von Betroffenen erhalten. Wenn wir uns nur auf Hightech-Messungen beschränken, werden wir die Hälfte übersehen.“

Die Grenze bestimmen

Andreas Zieger und Steven Laureys eint am Ende doch ein Ziel: in Zukunft Fehldiagnosen zu verhindern, die womöglich die Falschen zu Kandidaten für die passive Sterbehilfe machen. Ärzte und Angehörige entscheiden oft, die künstliche Ernährung einzustellen oder das Beatmungsgerät abzuschalten, wenn das tiefe Koma zum Dauerzustand wird und keine Aussicht auf Besserung besteht. Für die Gesundheitssysteme ist das zudem eine Kostenfrage: Rund 500.000 Euro kostet ein Intensivbett im Jahr. „Wir müssen die Grenze sorgfältig definieren, aber definiert werden muss sie“, sagt Steven Laureys.

Der schmale Grat zwischen Leben und Tod

Herz- und Atemstillstand galten früher als Todeszeichen. Ein Mensch stirbt dann zwangsläufig, weil seine Gehirnzellen ohne Sauerstoff zugrunde gehen. Seit aber das Überdruckbeatmungsgerät im Jahr 1950 erfunden wurde, ist das nicht mehr so klar: Hirnfunktion und Herz-Lungen-Arbeit lassen sich heute medizinisch voneinander entkoppeln. Das Gehirn Sterbender wird erst einmal am Leben erhalten, bis es von selbst versagt - oder sich wieder erholt.

Mediziner der Harvard-Universität definierten 1968 das „Hirntodsyndrom“ als irreversibles Koma. Englische Ärzte ergänzten 1976: „Ist der Hirnstamm tot, dann auch das Gehirn, und ist das Gehirn tot, dann auch die Person.“

Mit Reflextests kann man die Funktion des Stammhirns überprüfen. Regt sich dabei nichts mehr im Körper, ist aber noch nicht ausgeschlossen, dass im Großhirn doch noch ein Rest Wahrnehmung existiert. Daher ist für die Definition des Todes, wie sie derzeit in Deutschland und den meisten anderen Ländern gilt, entscheidend: Auch fürs Großhirn muss der endgültige Ausfall nachgewiesen sein, etwa per Ultraschallaufnahme der Blutgefäße.

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